Im Jahr 2004 wurde von der damaligen rot-grünen Bundesregierung das Arbeitsmarkt-Reformpaket unter dem klingenden Namen Agenda 2010 umgesetzt. Es war das Jahr, in dem die Sozialhilfe durch das Arbeitslosengeld II (ALG II), im Volksmund Hartz IV, ersetzt wurde. Seither sind Arbeitslose gezwungen, so gut wie jeden Job anzunehmen, egal wie schlecht er bezahlt ist. Vor der Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro waren Stundenlöhne unter 6 Euro brutto in bestimmten Branchen keine Seltenheit.
Erwerbsarmut in keinem EU-Land so stark gestiegen wie in Deutschland
Seither hat sich die Erwerbsarmutsrate in Deutschland verdoppelt. Das ergibt eine neue Studie der gewerkschaftsnahen Hans Böckler Stiftung. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum stieg die Erwerbsarmutsrate in Italien um knapp ein Drittel, in Spanien und Frankreich je um fast ein Viertel. In einigen Ländern sank sie sogar: Die Niederlande verzeichneten einen Rückgang um rund 12 Prozent, die Slowakei sogar um 32 Prozent. Das heißt: In keinem EU-Land hat sich die wirtschaftliche Situation der Arbeitnehmer krasser verschlechtert als in Deutschland – dem mit Abstand reichsten Land in der Gruppe.
Im EU-Schnitt gelten rund 10 Prozent der Arbeitnehmer als arm – sie verdienen weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohns. In Deutschland sind es 9,6 Prozent. Spitzenreiter ist Rumänien (18,6 Prozent), am besten geht es den Finnen, Tschechen und Belgiern mit rund 4,5 Prozent.
Die Ergebnisse der Studie zeigen die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Denn in Deutschland besteht derzeit ein Beschäftigungs-Höchststand, es sind so viele Menschen wie nie zuvor in Arbeit, was die Bundesregierung auch auf die Agenda-Reformen zurückführt. Dieser Zusammenhang besteht zweifellos, ist aber vor allem darin begründet, dass Arbeit massiv verbilligt wurde, Arbeitnehmerrechte abgebaut und Subventionen für Arbeitgeber geschaffen wurden, beispielsweise über die Lohnaufstockung. Neben der Quantität kommt es aber auch auf die Qualität an, also die Frage, ob ein Arbeitnehmer von seiner Arbeit leben kann.
Studie fordert soziale Mindeststandards
„Erwerbsarmut lässt sich nicht mit Lohnsenkungen und dem Abbau von Transferleistungen bekämpfen. Im Gegenteil, unserer Analyse zufolge erhöhen diese Maßnahmen das Erwerbsarmutsrisiko. Eine wirkungsvolle Gegenmaßnahme wären soziale Mindeststandards, von denen Mitgliedstaaten nur nach oben abweichen dürften und die im Rahmen der jeweiligen nationalen Systeme umzusetzen wären“, folgern die Autoren der Studie.
Andere Studien zeigen, dass sich der Trend zur Erwerbsarmut in den letzten Jahren zumindest stark verlangsamt hat und sich die Schere zwischen arm und reich nicht mehr weiter öffnet. Dennoch braucht es Maßnahmen für die heute Betroffenen. Denn Erwerbsarmut führt zwangsläufig zu Altersarmut. Die Studie empfiehlt daher auch eine Erhöhung der ALG II-Sätze sowie einen Abbau von Sanktionen, da diese maßgeblich dafür verantwortlich sind, Arbeitslose in den Dumpinglohnsektor zu drängen, aus dem sie, wie Untersuchungen zeigten, oft kaum mehr herauskommen können.